Schonungslos ehrliche Fotografien von Antiheld*innen in einer teilweise voyeuristischen Sowjet-Ästhetik. Anlässlich des 80. Geburtstages des Fotografen werden 400 seiner Werke gezeigt. Einer der wichtigsten Protagonisten der Gegenwartsfotografie.
Es ist Winter. Zwei Männer stehen am Straßenrand, der Schnee auf dem Asphalt um sie herum ist zertreten. Ihre Gesichter sind vom Leben gezeichnet, in den Händen frisch zerlegte Knochen, offensichtlich der gewaltige Brustkorb eines großen Tieres. Dieses Bild aus der Serie Case History (1997/98) von Boris Mikhailov zeigt Menschen, die sich durch die politischen, kulturellen und sozialen Umwälzungen im ehemaligen Ostblockstaat Ukraine verändert haben. Es sind Antiheld*innen, deren Armut, Nacktheit und Sexualität Mikhailov offenlegt. Der direkte Umgang mit seiner Umgebung und seine Bildsprache haben den Fotografen zu einem der wichtigsten Protagonisten einer schonungslosen, brutal-ehrlichen und manchmal fast voyeuristischen Fotografie gemacht. In der Auseinandersetzung mit seinem Land und den Menschen ist Mikhailov einzigartig. Bis heute hat er mit der Wahl seiner Themen und Ästhetik nicht nur jegliche Tabus gebrochen, sondern auch viele seiner Zeitgenoss*innen beeinflusst. Bis in die 1990er-Jahre wurden seine Arbeiten jedoch kaum öffentlich gezeigt. Erst 1994 kam Mikhailov mit einem Stipendium nach New York, 1996 nach Berlin und wird seitdem international wahrgenommen. Mit einem virtuosen Werk aus fast 50 Jahren gilt Boris Mikhailov als prominenteste Stimme der Gegenwartsfotografie und steht sowohl politisch als auch künstlerisch für eine neue Generation einer postsowjetischen Welt.
Anlässlich des 80. Geburtstages von Boris Mikhailov zeigt C/O Berlin mehr als 400 Fotografien, die einen Überblick über sein Gesamtwerk geben. Dabei verweben sich Themen wie Körper, Systemkritik, Mortalität und Humor mit dem biografischen Hintergrund von Mikhailov. Projektion, gerahmtes Bild an der Wand und Tischvitrinen unterstreichen Spielarten seiner Arbeit ebenso die Materialität von Fotografie als Objekt. So entsteht ein dichter formalistischer, ideologischer und emotionaler Dialog mit Boris Mikhailovs Gesamtwerk.
Boris Mikhailov (*1938 in Charow, Ukraine) zählt zu den wichtigsten Chronisten des Alltags einer (post-)sowjetischen Gesellschaft. Mikhailov studierte an der Technischen Universität Charkov Elektrotechnik und war zunächst als Ingenieur tätig, bevor er als Autodidakt Ende der 1960er-Jahre beginnt zu fotografieren. Die frühen Serien der 1960er- und 70er-Jahre zeigen oft persönliche Bilder von Freund*innen, Bekannt*innen oder Partner*innen des Künstlers. Dabei ist die Welt in seinen Bildern immer ungeschönt und rau – Alltagsszenen, Armut, Sexualität, Verzweiflung, Resignation, Verfall eines vergessenden Osteuropas. Mikhailov widmet sich stets den Ausgestoßenen der Gesellschaft. Seine Werke wurden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen weltweit präsentiert, darunter zuletzt im Sprengel Museum, Hannover (2013), in der Berlinischen Galerie, Berlin (2012), im Museum of Modern Art, New York (2011), im Tate Modern, London (2010), in der Kunsthalle Wien (2010) und im Ukrainischen Pavillon auf der Biennale di Venezia (2007). Boris Mikhailov lebt und arbeitet in Charkow sowie in Berlin.