Endlich Urlaub, endlich Sonne, endlich Pause vom Hamsterrad. Schon im Hinfahrt-Stau entpuppt sich die Vergnügungsfahrt allerdings als regelrechter Horrortrip. Die Reiseroute führt an Abgründen vorbei, offenbart verminte Felder, stinkende Plastikmüllberge und von Stacheldraht umzäunte Privatstrände voll toter Fische. Zwischen gläsernen Monumenten des Spätkapitalismus und dichtem Schornsteinnebel huldigen Wahlplakate am Straßenrand dem freien Markt. Daneben wühlt eine alte Frau im Abfall. Geschilderter „Urlaub in der Bredouille“ dient lediglich als halbironische Metapher – und doch kommt die neue Platte von Dritte Wahl der beschriebenen Odyssee in ihrem Charakter erstaunlich nahe. Das neue Album der Rostocker Punkband gleicht einer schonungslosen Sightseeing-Tour durch dystopische Landschaften. „Urlaub in der Bredouille“ ruht sich nicht auf rebellischem Pathos und schlichtem Dagegensein aus und nennt die großen Miseren unserer Zeit beim Namen: Klimakatastrophe, Reichtumsverteilung, Korruption, Wohnungsnot, Inflation, Übermacht der Konzerne und Maschinen. Das Album ist Soundtrack zum Untergang, wütender Ausbruchsversuch aus der Matrix und kreativer Mutmacher zugleich, ist ein lauter, beherzter Hybrid aus Wut, Galgenhumor, Idealismus und Klamauk.
Der stete Tanz zwischen Resignation und Resthoffnung gehört wie die kredibile Auseinandersetzung mit politischen Schieflagen seit eh und je zur Dritte-Wahl-DNA. 1988 gegründet spielte die Band ihre ersten Konzerte noch auf dem Boden der ehemaligen DDR. Nach der Wende gelang Dritte Wahl der organische Aufstieg zu einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Punkrock-Ensembles – die enge Verbindung zur Subkultur hat die Band dennoch zu keinem Zeitpunkt verloren. „Geblitzdingst“ von 2015 stieg als erste Platte in der Geschichte des Viergespanns in die deutschen Albumcharts ein, die letzte LP „3D“ kletterte darin sogar auf Platz sechs. Mit Veröffentlichung des zwölften Studioalbums „Urlaub in der Bredouille“ feiern Dritte Wahl ihr 35-jähriges Jubiläum. Statt einer nostalgischen Best-of-Platte veröffentlichen Gunnar und Jörn ‚Krel‘ Schroeder, Stefan Ladwig und Holger H. zehn brandneue Songs.
Der aufbrausend-triumphale Opener „Wir schießen die Milliardäre ins All“, ein augenzwinkerndes Gedankenspiel mit eklatanter Botschaft. In „Simulation“ sucht man vergeblich nach ironischer Doppelbödigkeit – begleitet von unheilschwangeren Gitarren und Metal-esker Doublebass zeichnet Gunnar Schroeder düstere Bilder einer kranken Gesellschaft. Der treibende Titeltrack „Urlaub in der Bredouille“ spitzt sich in seinem Zynismus immer weiter zu und endet in einem trügerisch harmonischen Finale. Auf den Perspektivwechsel „Panama“, der die blutbeschmierte Familiengeschichte einer betuchten Wirtschaftsdynastie erzählt, folgt das ermunternd-hymnische „Keine Zeit für weiße Fahnen“. „Edwin Aldrin“ gibt die tragische Biografie des zweiten Manns hinter Weltraumfahrer Neil Armstrong wieder, „Der Spion“ erzählt die ulkig-fiktive Geschichte eines alkoholkranken Doppelagenten im Kalten Krieg. Auf „Steine im Weg“ – ein aufrichtiger Steh-auf-Song für die Verzweifelten und Bemühten – folgt mit „Statistik“ das musikalisch zwanglose Finale der Platte. Statt in Abschiedspathos abzudriften, beschäftigen sich Dritte Wahl darin mit tendenziös angelegten Datenanalysen – ein letzter Beweis dafür, dass die Rostocker immensen Redebedarf und den Urlaubsort Bredouille nicht aufgegeben haben.