Das sagt der/die Veranstalter:in:

Fast könnte man den Eindruck bekommen, Johanna Dumet habe einen in ihr eigenes Zuhause eingeladen: Die Künstlerin hat die Wände der Galerie Mehdi Chouakri mit hunderten Malereien ausstaffiert, die zusammengenommen die Illusion einer gigantischen Interieurszene erwecken. Zwar mag die rosa Residenz beim ersten Blick durch das Schaufenster ungewohnt extravagant wirken, doch offenbaren sich beim Erkunden der lebensgroßen Kulisse unsere kindliche Neugier und latenter Voyeurismus. 1947 malte Henri Matisse sein „Intérieur rouge, nature morte sur table bleue“. Das Gemälde zeigt ein rotes Zimmer, darin ein runder Tisch mit Früchten und einer Blumenvase. Eine offene Terrassentür eröffnet den Blick ins Grüne. Matisse kombinierte in seinem farbenfrohen Bild die Innenansicht des Raumes mit einem Stillleben. Johanna Dumet greift dieses berühmte Werk auf und überführt es ins Extreme: Sie erklärt Rosa zur dominanten Farbe und erweitert das Kunstwerk so sehr, dass es den gesamten Galerieraum einnimmt. Das überwältigende Pink, in allen Schattierungen, ist die Lieblingsfarbe der Künstlerin. Die Verwendung des oft belächelten oder unterschätzten Rosas stellt eine bewusste Auseinandersetzung mit Vorurteilen und unausgesprochenen Regeln innerhalb der Kunstszene dar. Gleichzeitig ist das demonstrative Raum-einnehmen der Künstlerin ein Gestus, der in der Kunstgeschichte lange Zeit vor allem männlichen Künstlern vorbehalten war. Stück für Stück, wie bei der schrittweisen Herstellung eines Freskos, hat Dumet hunderte Papierausschnitte mit Ölfarbe bemalt und sie dann zusammengefügt. Dass die Einzelteile unterschiedliche Größen haben und die Übergänge an einigen Stellen holprig wirken, ist kein Zufall: „Imperfection is my favorite thing to happen“, sagt die Künstlerin. Wochenlang hat Dumet an den einzelnen Puzzleteilen gearbeitet, ihre jeweilige Stimmung hat sich auch in der Malart niedergeschlagen: Deutlich sind unterschiedliche Stile zu erkennen, mal ist die Pinselführung akribisch und detailreich, mal schnell und ober#ächlich ausgeführt. Trotz der Zweidimensionalität der Malerei lassen zahlreiche Blickwinkel die Räume fast plastisch wirken.

„Intérieur rose“, so die Künstlerin, soll einen Ort zum Wohlfühlen darstellen. Das Einrichten des eigenen Zuhauses ganz nach dem individuellen Geschmack ist ein Grundbedürfnis vieler Menschen, zumal es Sicherheit und Geborgenheit verspricht. Mit „Intérieur rose“ lässt Dumet die Besucher*innen nun an ihren eigenen Gestaltungsideen teilhaben. Wohlüberlegt hat sie die Einrichtung ausgewählt, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der man ungehemmt Kind sein darf. Und tatsächlich stellt sich eine verspielte Neugier ein, wenn man die belebte Umgebung erkunden darf: Die Wände schmücken einige Kunstwerke – Bilder im Bild –
darunter Arbeiten von Dumet selbst sowie Gemälde anderer Künstler. Irgendwo in dem roséfarbenen Ambiente thront bedächtig ein grauer Kater, nicht weit entfernt von einer griechischen Marmorstatue. Lediglich angedeutet ist der Fuß einer Treppe – wo sie hinführt, bleibt der eigenen Vorstellung überlassen. Ebenfalls nur schemenhaft umrissen ist die Sicht in einen Nebenraum, dessen Einrichtung nahezu gespenstisch vage bleibt. Auch das wortwörtliche Schlüsselwerk der Ausstellung lässt viel Raum für Spekulationen: Zwischen all den deutlich größeren Malereien ist das unscheinbare Schlüsselloch leicht zu übersehen. Wer hindurchsieht, kriegt eine ungefähre Vorstellung von den Ereignissen, die sich hinter der verschlossenen Tür abspielen: Hier befinden sich die einzigen Personen weit und breit. Die Szenerie erinnert an Marcel Duchamps begehbare Skulptur „Étant donnés“ (1946–66), in der der Blick durch das Schlüsselloch einen nackten Frauenkörper offenbart. Anders als Duchamp gibt Dumets Installation jedoch nur wenig preis: Ob es sich wirklich um eine Liebesszene handelt und wer hier mit wem turtelt, bleibt unbeantwortet. Dennoch enthüllt der voyeuristische Blick die Erwartungshaltung der Beobachtenden: Was erhofft man sich von der reizvollen Aussicht? Wie groß sind die Hemmungen, in einem fremden Heim zu spionieren? Johanna Dumet vereint nicht nur Stillleben und Interieur wie einst Matisse, sondern beruft sich auch auf die Tradition des Sittenbildes: Die ab dem 15. Jahrhundert populären Darstellungen scheinbar unauffälliger Alltagsszenen, beinhalteten bei genauem Hinsehen versteckte Andeutungen oder geheime Codes. Häufig gingen sie außerdem mit einer moralischen Botschaft einher. Hier könnte sie lauten: Seid neugierig! Guckt durch Schlüssellöcher! Schnüffelt herum! Die Künstlerin lässt die Galerie zu ihrem eigenen Kammerspiel werden: Peu à peu werden die Besuchenden zu Darstellenden in der gigantischen Kulisse. Wie in einem Theaterstück nehmen sie gewisse Rollen ein: Die Zurückhaltende, den aufmerksamen Beobachter oder die neugierige Schnüfflerin. So wird die Galerie selbst zur Bühne – denn was privat oder heimlich anmuten mag, Findet unter den Augen der Öffentlichkeit statt und ist durch das Schaufenster der Galerie zu beobachten. Die immersive Malerei von „Intérieur rose“ ist gleichzeitig spielerisch und zugänglich, kann aber auch zur Herausforderung werden. Schließlich ist das Drehbuch unbekannt und das Ende noch offen.

Location

Galerie Mehdi Chouakri Wilhelm Hallen Kopenhagener Straße 60 - 72 13407 Berlin

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