Ein choreografisches Skizzenbuch in zwei Teilen
Versuchen Sie nicht das Ballett zu verstehen. Es hat keine Geschichte, (die ich Ihnen erzählen könnte) – außer der Handlung, die Sie eventuell beim Hören der Musik und beim gleichzeitigen Betrachten dieser Bewegungssituationen in sich selber spüren. Da formen sich sicher viele ganz unterschiedliche Geschichten...
Ich war von Lera Auerbachs Musik bewegt und habe mir, ohne viel nachzudenken, Tänzer ausgesucht, die ich in dieser Musik "gehört" habe. Aus ihren eigenen Persönlichkeiten entstanden die Figuren des Balletts. Für mich haben sie nun ein eigenes Leben angenommen. Aber, wie Menschen im wirklichen Leben, bleiben sie letztendlich enigmatisch, geheimnisvoll. D.h. ich sehe zwar, was sie tun (habe es selbst erfunden!), doch ich verstehe ihre Motive nicht immer. Weiß nicht, was sie wirklich denken, begreife nicht, warum sie etwas machen (oder nicht machen). Manchmal glaube ich die Menschen wiederzuerkennen – manchmal sehen sie ganz anders aus. Ich kenne sie – ich kenne sie doch auch wieder nicht. Ihre Beziehungen scheinen unklar und wechseln öfters. Sie sind nicht berechenbar – genau wie wirkliche Menschen.
3. April 2003
Notizen in den ersten Tagen der Kreationen von "Préludes CV"
Manchmal sehe ich das Ballett wie ein Skizzenbuch... mein sehr persönliches Bewegungs-Skizzenbuch der Gefühle. Tanzbilder, einzelne unvollendete Fragmente menschlicher Situationen (scheinbar) beziehungslos nebeneinander – räumlich begrenzt durch den Bühnenraum, zeitlich durch die Dauer der Musik (wie Skizzen durch die Maße des Papiers). Sie scheinen ohne Zusammenhang, aber wie im Zeichenblock hat der Instinkt des Künstlers sie genau dort auf dem Blatt skizziert und gibt damit unterschiedlichen Motiven unbewusst ihre geheimnisvolle Logik. Auch, typisch für ein Skizzenbuch, gibt es in meinem Ballett mehrere Varianten der gleichen Aktion, Tanz oder Situation... als ob der Beobachter (der Zeichner, der Choreograf) Aspekte des "Gleichen" auch anders einzufangen versucht...
9. Juni 2003
Notizen in den letzten Tagen der Kreationen von "Préludes CV"
John Neumeier
Musik: Lera Auerbach – 24 Préludes für Violoncello und Klavier und 24 Préludes für Violine und Klavier
Choreography, Bühnenbild und Kostüme: John Neumeier
2 Stunden 35 Minuten | 1 Pause
1. Teil: 60 Minuten, 2. Teil: 70 Minuten
URAUFFÜHRUNG:
Hamburg Ballett, Hamburg, den 22. Juni 2003
ORIGINALBESETZUNG:
Silvia Azzoni
Joëlle Boulogne
Laura Cazzaniga
Heather Jurgensen
Elizabeth Loscavio
Susanne Menck
Niurka Moredo
Anna Polikarpova
Lisa Todd
Otto Bubenícek
Peter Dingle
Yukichi Hattori
Carsten Jung
Alexandre Riabko
Lloyd Riggins
Yohan Stegli
Sébastien Thill