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Sardanapal

Das sagt der/die Veranstalter:in:
Wenn ich nicht ich bin Wegen ihm warfen sich die Menschen von den Klippen: Lord Byron ist der Inbegriff des romantisch-revolutionären Künstlers. Sein Stück Sardanapal gehört zurück auf den Spielplan unserer Theater. Ein Plädoyer von Fabian Hinrichs. Vor 150 Millionen Jahren war es in Europa warm und feucht und riesige Brontosaurier fraßen Zypressenwipfel kahl. Vor 15.000 Jahren dann herrschte Eiszeit, die Erdoberfläche war von meterhohen Gletschern bedeckt, Leben war keines zu finden. Das weiß man. Und es erstaunt niemanden. Und auch, dass die Zeit jeden von uns totschlägt und selbst vom großen Alexander nur Staub bleibt, der ein Spundloch stopft, ist schon oft gedacht und geschrieben worden. Dass aber ein Mann, der vor 200 Jahren dem Seelenzustand einer ganzen Zeit seinen Namen lieh, nach dessen Tod sich Frauen von Klippen und Männer in Mutlosigkeit stürzten, dass dieser Mann und all seine Werke vollkommen vergessen wurden, – das ist bemerkenswert, ernüchternd und zu betrauern. Dieser sehr vergessene Mann, Dichter, Politiker, Reisende, Magersüchtige und Freiheitskämpfer mit deformierten Achillessehnen, von dem hier die Rede ist, war George Gordon Byron, damals auch bekannt als Lord Byron. Die kulturelle Bewegung, die seinen Namen trug, nannte sich „Byronismus“, der „Weltschmerz“, ein furchtbarer, lebenslanger Schmerz, den er hätte nur enden können, wenn die Welt geendet wäre. Und die vergessenen Werke des angelsächsischen Erfolgsautors Nummer Eins der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heißen „Manfred“, „Childe Harold“, „Kain“ und – „Sardanapal“. Aber während „Nathan der Weise“ und überhaupt Lessing im Allgemeinen ruhig eine Zeit lang auf der Ersatzbank der Theaternationalmannschaft Platz nehmen könnten, verdient insbesondere die mühelose, frecherweise als Tragödie bezeichnete und Goethe gewidmete peinlicherweise vergessene Melange aus Tragödie, Burleske und Melodram namens „Sardanapal“ eine strahlende Wiedergeburt. Seit 1821 stellt König Sardanapal darin diese Frage: „Wenn ich nicht ich bin, hier – wer kann ich sein? Wo?“ Die Antwort spürt er. Wir spüren sie auch, für uns selbst. Und diese skeptische Frage der Moderne nach der Möglichkeit der Freiheit des Einzelnen von inneren und äußeren Normierungszwängen – wer kann sie denn wirklich verdrängen? Diese tief empfundene Sehnsucht nach einem Leben in einem anderen Körper, in einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit ­- wer hat sie nicht? Die Quellen des Dramas waren Byron nach eigener Aussage bereits als Zwölfjährigem bekannt: Sardanapal galt lange Zeit in den traditionellen Überlieferungen als der letzte Herrscher über das altassyrische Reich bis zu dessen Untergang, den der König hiernach selbst herbeiführte, indem er sich selbst und all seine Schätze bei der Zerstörung der Stadt Ninives im Jahre 606 v. Chr. im Königspalast anzündete. Diese mittlerweile widerlegten Ereignisse fand Byron bei dem antiken griechischen Chronisten Diodor. Byron nimmt diesen Stoff auf, verändert ihn allerdings erheblich. Er verfasst das fünfaktige Versdrama streng nach dem aristotelischen Gesetz der drei Einheiten (Einheit der Handlung, Einheit des Ortes, Einheit der Zeit), was dazu führt, dass sein König Sardanapal sich ausschließlich in der Halle des Palastes aufhält und innerhalb nur einer kurzen Sommernacht unaufhaltsam der Katastrophe entgegengeht. Der Verlauf des Verhängnisses soll hier schnell erzählt sein: König Sardanapal lehnt grundsätzlich die althergebrachte und sich immer wiederholende Form der Herrschaft durch Unterdrückung, Verstellung, Expansion, Lüge und Gewalt ab, vielmehr genießt, betrachtet, singt, küsst und träumt er. Statt andere zu töten lebt er lieber. Er achtet darauf, „sich keine Freiheit zu nehmen, die er dem Volk versagt“, er wünscht sich „tränenlose Triumphe“ und ein „Leben ohne Lüge“, er liebt die Sklavin Myrrha verheiratet ist er aber mit Königin Zarina. Für all das wird er von großen Teilen des Machtapparats und des Volkes verachtet, es wird ein Putsch vorbereitet. Die den König leidenschaftlich bedrängenden Minister fordern nun von ihm endlich ein Führen mit harter Hand. Sardanapal lehnt erst ab, schwankt, und entschließt sich dann spät, den Putschisten gewaltsam und bestimmt entgegenzutreten – zu spät. Die Armee ist geschlagen, die Stadt umzingelt, die Tatsachen sind geschaffen. Er bewirkt die Flucht seiner Frau Zarina samt seiner Söhne, verteilt unter den wenigen verbliebenen und am Leben gebliebenen Getreuen seine Schätze, für sich aber lässt er einen riesigen Scheiterhaufen errichten, in dessen Mitte der Königsthron. Mit Myrrha, die sich weigert, zu fliehen, trinkt er einen Becher Wein und widmet den letzten Schluck einem der Verschwörer, Beleses. Sardanapal besteigt den Holzstoß, Myrrha entzündet ihn, sie stürzt sich zu ihrem Geliebten in die Flammen, währenddessen fällt der Vorhang. Applaus. Die große Frage, der Byron in ungezwungenen fünftaktigen Versen hier nachgeht ist die Frage, die die Philosophie auch zweihundert Jahre nach Kant nicht losgeworden ist. Die Frage lautet: „Was ist Aufklärung?“. Und mit ihr kommt eine weitere im Schlepptau: „Was ist Vernunft?“ Also auch: Was ist vernünftig? Wer bestimmt das, von welcher Warte aus? Das Genie Henrik Ibsen sagt, dass bei jedem Gedanken, wenn man ihn zu Ende denkt, das Gegenteil herauskommt. Verhält es sich möglicherweise auch so bei der schnellen Vermutung, das Denken und Handeln König Sardanapals könnten alles Mögliche sein, aber auf keinen Fall vernünftig? Sardanapal säuft, er „bankettiert und bankettiert“, verweigert den Ruf des Volkes nach Governance per Dekret, er zieht sich Frauenkleider an, ist also eher Drag-Queen als Principe und hat offensichtlich von Vielem sehr viel – viel Zeit, viel Fröhlichkeit und Sexualität von früh bis spät. Er lässt die Rebellen sehr lange nahezu schicksalergeben gewähren, weigert sich, den von außen an ihn herangetragenen Vorstellungen, wie ein König zu sein hat, zu entsprechen und wird dafür von großen Teilen des Hofstaates, des Heeres und des Volkes gehasst. Und dennoch: selbst die schlechtesten Umfragewerte und vehementesten Politikberater haben überhaupt keinen Einfluss auf Sein und Handeln des „She-Kings“ (Byron) Sardanapal. Er verfolgt keine Politik des territorialen Wachstums, ja noch nicht einmal des gebietsmäßigen Status quo. Er begeht den nach Machiavelli größten Fehler, den ein Regierender überhaupt begehen kann: er lehnt es ab, gefürchtet zu werden und will stattdessen geliebt werden. Das für ihn hässlichste Wort lautet „Tugend“. Auf Myrrhas Bitten, die Götter um Rat zu fragen, antwortet er: „Die sprechen nicht“. Eine göttliche Vernunft gibt es nicht, nicht mehr. Das Meiste hiervon erscheint höchst unvernünftig. Ist es aber nicht, ganz und gar nicht. Denn das, was von Sardanapals Beratern, Freunden und der Bevölkerung seines Reiches eingefordert wird, ist nicht Vernunft. Es ist vielmehr deren Rückseite. Es ist eine unvernünftige, weil unmenschliche Vernunft, in deren Namen „Meere von Blut vergossen“ und „Menschen fortgetrieben werden“. Hinter diesem alles und jeden bestimmenden verstandesbestimmten Denken und Handeln verbirgt sich die uneingeschränkt bestimmende Moral vom universalen Menschen, vom Menschen an sich, die dafür sorgt, dass von ganz wirklichen, lebendigen Menschen „Pyramiden, babylonsche Wälle im Schweiße ihres Angesichts“ gebaut werden. Nur einer hat tatsächlich nicht die Absicht, eine Mauer zu errichten, auch keine schöne – König Sardanapal. Wenn Sardanapal sein auch heute noch überzeugendes Programm praktischer Vernunft anbietet, eines, das man gar nicht groß genug schreiben und fett genug drucken kann, nämlich „EAT, DRINK, AND LOVE; THE REST IS NOT WORTH A FILLIP“, wendet er sich, vollkommen vorbildlos, gegen die Wiederholung des Bisherigen: gegen das ewige Muster des materiellen Wachstums und der Eroberung für ein neues Muster der Liebe, der Toleranz, des Genusses, des Hier und Jetzt, der Naturverbundenheit, der Einbettung des Menschen in einen größeren Naturzusammenhang. Und deutet damit gleichzeitig klar und vollends vernünftig auf die unmenschliche, leere Mitte eines Willens zu Unternehmungen, bei denen Menschen als Stoff dienen, um Werke für die Geschichtsbücher zu erschaffen. Werke, an denen „Tränen hängen“ und die doch nur „zu Asche“ werden. Wie Byrons selbst. Wozu ein Reich, wenn man es nicht genießt, auf einer Gondel den Euphrat entlangfahrend, die Geliebte im Arm, den bestirnten Himmel über sich und ein Viertel Wein in sich? Und was den Wein betrifft- wofür eigentlich bleibt Bacchus – ein anderer Name von Dionysos – in Erinnerung, wofür hat er Anspruch auf Unsterblichkeit? Nicht für „die Meere Bluts, das er vergoss, der Reiche Marken, die – Er wüst gelegt, der Herzen, die er brach“, nein, „hier in diesem Becher ruht- Sein wahrer Anspruch auf Unsterblichkeit“, in der süßen Traube „die er ausgepresst und die er uns geschenkt, – das Menschenherz zu freu’n. Zum Menschen mach‘ es dich! – Komm!“. Wie viele Menschen hätten statt des hässlichen Todes im Morast der Schlachtfelder die Möglichkeit zu einem schönen Leben haben können, mit einem solchen in Lebenskunst geschulten König, der keine Trophäen für einen Eintrag in die Geschichtsbücher als Sinngebung des Sinnlosen braucht. „Ruhm – was ist das?“ fragt König Sardanapal die geliebte Myrrha. Ja, was ist das? Und die Zeilen: „Und keine Krone mehr zu tragen als Von Blumen nur“, sie könnten von Walt Whitman stammen. Oder von Joni Mitchell. Doch Verse wie diese verführen leicht dazu in König Sardanapal einen gebrauchspazifistisch-hedonistischen und daher im Kern unpolitischen Vorreiter des Hippies zu erblicken. Aber auch hier landet man, wenn man den Gedankengang bis zum Ende geht, ganz woanders. Denn während der Hippie beziehungsweise Neo-Hippie damit beschäftigt ist, selbst das langweiligste Zeug zum Event zu machen und glaubt, indem er Momente und nicht Geld sammelt, für sich und seine Community die Straße zum Glück gefunden zu haben, weiß Sardanapal, dass es diese Straße so nicht gibt. Unter ihr ist nicht der Strand, sondern die verächtlichen Verhältnisse und sie führt nicht zu Happiness und Freiheit, sondern in den Abgrund von Selbst- und Fremdkontrolle. Sardanapal versteht, dass dieses Glück für ihn und auch für alle anderen nur zu haben wäre, wenn er leben könnte, „so wie immer ich mag“ und „wie immer sie mögen“. Die praktische Welt, in der wir leben müssen, in die wir hineingeboren werden, ist aber keine, in der eine solche Bruchlosigkeit mit sich selbst möglich ist: „Ich bin der Sklave der Verhältnisse, – Des Augenblicks, von jedem Hauch bewegt, – Falsch auf dem Thron, im Leben falsch gestellt; – Ich weiss nicht, was ich konnte sein; doch fühl’, – Ich bin nicht was ich sein gesollt.“ Das, was er ist, wie und was er denken kann und soll, wurde ihm, dem Menschen Sardanapal, auferlegt, das weiß er. Auferlegt – von wem? Sardanapal spricht nie vom Menschen an sich und zum Menschen an sich, sondern kennt nur den Menschen in der Mehrzahl. In einer Welt, in der die Menschen leben müssen kann die schmerzhafte und oft tödliche Distanz zwischen den Menschen untereinander nur durch das Mitleid überwunden werden. König Sardanapal besitzt dieses ständische, nationale, sexuelle und geschlechtliche Unterschiede übergreifende Mitleid „Ich hasse jede Qual: – Die, die man macht, wie die, die man erleidet. – Wir haben innerlich genug davon, – Der höchste Fürst, der niedrigste Vasall, – Um jene Last von schwerem Menschenleid, – Das uns Natur bescheert, nicht noch zu mehren; – Vielmehr des Lebens mannichfaltig Weh’ – Durch gegenseitige Erleichterung – Zu mildern und zu mindern allenthalb.“ Ibsen, das Genie, hat recht: Sardanapal ist ein vernünftiger Mensch, die eigene Identität ständig brechend. Als ob er neben Nelkenblättern und Rosenwasser Brechts Aphorismen auf dem Nachttischchen liegen hätte, macht er nämlich das, was Brechts identitätskritischer Satz „Die Situationen sind die Mütter der Menschen“ beschreibt: er nimmt schließlich das Schwert und wirft sich selbst in den Kampf. Anfangs durch liberales Laissez-faire übernimmt er nun Verantwortung für Andere durch Ausübung autoritärer Herrschaft. Er kümmert sich jetzt auch auf einmal um seine Familie, nachdem er vorher biologische Verwandtschaft für irrelevant erklärt hat. In alldem ist er keine persönlichkeitsgestörte Person im klinischen Sinne. Er ist „a Mentsh“ wie es im Jiddischen heißt. Am Ende wird alles, was ihn gezwungen hat, das zu sein, was er ist, verbrannt: der Thron, die Krone, er selbst. „It’s better to burn out than to fade away – My My, Hey Hey“ singt Neil Young 1977. 1821 schreibt Byron im Sardanapal: „Ich möchte eine Rose sein die man pflückt statt zu welken.“ Das ist es, das Schauen in den Abgrund. Das klingt alles sehr tragisch. Das ist es auch. Und doch ist „Sardanapal“ keine Tragödie, sondern eine Burleske, meinetwegen auch eine burleske Tragödie oder eine tragische Burleske. Denn so wie er seine Stellung und sein Leben als König als eine von außen auferlegte Rolle begreifen kann, die ihm ohne jegliches Casting zugefallen ist, so nimmt er auch alle Veränderungen des Profils dieser Königsrolle an, die durch die sich nacheinander ablösenden krisenhaften Situationen entstehen. Und zwar mit einem auf deutschen Bühnen endemischen Wesenszug: Humor. Was habe ich gelacht. Bereits der Auftritt: ein Regierungschef als sich darin ganz selbstverständlich verhaltene Drag-Queen, und das geschrieben und aufgeführt im 19. Jahrhundert, als die Queer-Theorie noch nicht einmal eine Träne im Ozean war. Wenn Sardanapal in höchster Not endlich das Schwert ergreift, um sein Leben zu verteidigen, reicht er es nach einmaligem Hochheben gleich an den Nächstbesten weiter – es ist ihm einfach zu schwer, der Kampf kann so ja unmöglich genossen werden. Im dritten Akt, als die Aufständischen seinen Palast stürmen und er so schnell es irgend geht seine Rüstung anlegen soll, lässt er sich erst einmal von bestürzten Dienern einen Spiegel bringen um zu bemerken: „Der Panzer steht mir gut.“ Der Helm wiederum jedoch gefällt ihm nicht, er ist ihm zu schwer, zu klobig, steht ihm nicht, im Gegensatz zum ultraleichten diademgeschmückten, der allerdings lediglich die Accessoire-Schutzklasse erreicht. Egal, die Funktion folgt der Form, die Form folgt dem Erhabenen. Byron selbst rief einst in Rom beim Anblick der von Bertel Thorvaldsen gerade fertiggestellten Byron-Büste aus: „Nein, das ist gar nicht ähnlich, ich sehe viel unglücklicher aus!“ Beim Errichten des Scheiterhaufens („der königlichste aller Scheiterhaufen„) schließlich gibt Sardanapal Regieanweisungen, wie und wo das Holz aufzuschichten ist, um Rauch- und Lichteffekte zu erzielen, von denen man noch Jahrhunderte später sprechen wird. Die beiden Liebenden Sardanapal und Myrrha stehen vor dem Holzstoß, „Und jetzt leb‘ wohl, – Ein letzt Umarmen noch! Ja, wenn das Feuer unsre Asche mischt.“ – der Tod- ein Irrtum, zu schön, um wahr zu sein. Und all dieses burleske Treiben, dies ganze Spiel im Spiel geschieht mühelos inmitten des strengen aristotelischen Baugesetzes für Tragödien, dem Gesetz der drei Einheiten. Wie spießig und karg kommen einem da die meisten griechischen Tragödien vor, wie tot, starr, unwahr. Denn Wahrheit gibt es nicht einfach so, sie wird erbaut, wie das Subjekt, wie die Rollen, die man spielt in den Gebäuden in denen man lebt, oder im Theater. Wie die Worte, die man spricht, nachdem sie einem vorher beigebracht wurden. Und jeder Versuch, das Ganze zu bestimmen, muss scheitern. Und aus diesem Grunde sind jene Theaterabende, während derer man nicht einige Male lachen muss, missglückte Versuche, mit Konzepten des Verstandes eine ästhetische Erfahrung zu erbasteln. Doch fern aller verstandesmäßigen Informationen, die „Sardanapal“ enthält, schenkt Byron dem Theater hier das, was es zur Kunst geraten lassen kann: sinnliche Erfahrungen, die unsere starren Verstandeswege und Denkbilder zerstören. Der Auftritt Sardanapals als queere Erscheinung samt riesigem Gefolge in unglaublichen Kostümen, alles müßte wogen und wallen auf der Bühne. Ich stelle mir langes, schier endloses Bankettieren vor, erfüllt von Wellen aus Gelächter und Gespräch und Schweigen und Nachdenken, Schlaf, Stille, Betrachten des Nachthimmels, uferlose Fecht- und Kampfszenen, die sich umformen zu Tanz- und Gesangspassagen. Und erst das Ende! Tragödie und Melodram wechseln sich in stetigem Übergang ab: ein riesiger Scheiterhaufen, der tatsächlich angezündet wird – und dann fällt der Vorhang, man hört das Knacken des Holzstosses, Ende. Überhaupt ist Byrons Verweis auf Bacchus (= Dionysos) natürlich ein willkommener und notwendiger Ruf, Sinnlichkeit überall zu suchen, wo man fündig werden könnte. Ohne ein Theater der digitalen Moderne, der Handschriften, ohne Second Screens, der einfachen binären Wahrheiten – denn das alles ist keinen Heller wert, wie wir gelernt haben. Einfach essen, trinken, lieben, denken, tanzen, wogen, singen, schweigen, murmeln, baden, liegen, fechten, gondelieren, stottern – und die Verse meisterlich beherrschen, das ist klar. Es gibt ein beeindruckendes Derivat von Byrons Drama, das im Gegensatz zum Schoß, dem es entsprang, ganz und gar nicht vergessen worden ist. Es ist das Gemälde „Der Tod des Sardanapal“ von Eugène Delacroix, es hängt im Louvre und es entstand, nachdem Delacroix Byrons burleske Tragödie gelesen hatte. Es stammt aus einer Zeit, in der die Bildende Kunst dem Theater fruchtbare Hinweise zu geben vermochte und nicht hauptsächlich tiefe Leere abbildete. Dieses Bild wird von Kunsthistorikern gerne als „Orgie aus Farbe und Bewegung“ beschrieben. Wäre es nicht herrlich, eine solche Orgie auch im Theater erleben zu können? Und wenn sich dies alles nicht lediglich ein Regisseur als das eine Fundament der Erkenntnis zuhause am Schreibtisch ausdenkt oder in Reihe drei auf der Probe, könnte das seit Langem abgewirtschaftete theoretische Theater wieder einen „Zug zur Unendlichkeit“ (Nietzsche) erhalten, ohne den Theater doch nur moralische Anstalt einfachster geistiger und ästhetischer Bauart sein kann, durch seine letztlich spießbürgerliche Jagd nach aktuellen Themen meilenweit entfernt von Wirklichkeit und ihrem Mysterium. Der lustige, traurige und gar nicht zerrissene Mensch Sardanapal spricht: „Es tritt – Doch immer etwas zwischen uns und dem, – Was wir für unser Glück ansehn.“ Diese unstillbare, unendliche Sehnsucht ist es, wo das Theater zuhause ist. Der Artikel erschien erstmalig im November 2019 in der FAZ.

Location

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Linienstraße 227 10178 Berlin

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