Ödön von Horváth gilt zu Recht als bedeutendster Diagnostiker seiner Zeit. In jedem seiner Sätze, die Horváth meist Kleinbürger*innen oder Frauen in patriarchalischer Abhängigkeit in den Mund legte, fand Klaus Mann eine «Atmosphäre echter Poesie». Horváths Dramen, Romane und Erzählungen, die starke biografische Bezüge zu München aufweisen, sind präzise sozialpolitische Analysen einer radikal entfremdeten und sozioökonomisch instabilen Gesellschaft, die am Abgrund steht und selbst alle Abgründe in sich trägt.
Der australische Autor und Regisseur Simon Stone, dessen aufsehenerregende zeitgenössische Interpretationen klassischer Dramen international für Furore sorgen, greift Figuren, Erzählstränge und Motive aus Horváths OEuvre auf, katapultiert diese in unsere Gegenwart und verbindet sie zu einem postheroischen, berührenden Panorama menschlicher Anstrengungen in Zeiten der Krise.
Im Mikrokosmos einer Tankstelle, einem öffentlichen Ort des Transits, an dem unterschiedlichste soziale Schichten aufeinandertreffen, beobachten wir in Momentaufnahmen fünfzehn Figuren – vom Paketzusteller über die CEO bis zur Sozialarbeiterin – und werden über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg Zeug*innen ihrer privaten Sehnsüchte, persönlichen Schicksalsschläge, psychischen Verwundungen, politischen Positionen oder ökonomischen Sachzwänge. In einer Poesie der Alltagssprache gelingt Simon Stone dabei eine hochaktuelle Hommage an den Horváth'schen Kosmos der Glücksuchenden und Gestrandeten, der Auf- und Aussteiger*innen, der Tag- und Albträumer*innen – und eine theatrale Analyse unserer Gegenwart.