Vom 24. August bis 18. September 2024 startet das Berliner Konzertleben mit der 20. Ausgabe des Musikfest Berlin in die neue Spielzeit, veranstaltet von den Berliner Festspielen in Kooperation mit der Stiftung Berliner Philharmoniker. In rund 40 Veranstaltungen werden in der Philharmonie, in deren Kammermusiksaal, im Konzerthaus Berlin und in der St. Matthäus-Kirche über 160 Werke von mehr als 80 Komponist*innen präsentiert, aufgeführt von 30 Klangkörpern und rund 60 Solist*innen des internationalen und Berliner Musiklebens.
Die populäre Musik von Jazz bis Hip-Hop prägt die Gesichter der vielen „Amerikas“. Die Kunstmusik der USA, des amerikanischen Doppelkontinents oder seiner drei Teile (Nord-, Mittel- und Südamerika) ist aber in der größeren Öffentlichkeit, selbst der der sogenannten „klassischen Musik“, noch immer eine Terra Incognita. Mit „Amériques“ ist die 20. Ausgabe des Musikfest Berlin überschrieben, mit dem extravaganten Plural-Titel des gewaltigen Orchesterstücks von Edgard Varèse von 1921, das die Utopie der unendlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Neuen Welt mit damals aktuellen und noch ungehörten Klängen musikalisch erleb- und fassbar zu machen suchte. Das Gepäck aber, mit dem der aus dem Burgund stammende, in seiner Berliner Zeit von Romain Rolland, Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss und Ferruccio Busoni geförderte und während des Ersten Weltkriegs emigrierte Komponist in der Neuen Welt ankommen sollte, war angefüllt mit der geballten Tradition des alten Europas.
2024 ist nicht nur das Jahr der amerikanischen Präsidentschaftswahlen, sondern auch das doppelte Jubiläumsjahr von Charles Ives, der im selben Jahr wie Arnold Schönberg geboren wurde – 1874 – und nur wenige Jahre nach dessen Tod verstarb. Schönberg, der nach der Machtergreifung der Nazis in die USA emigrieren musste, ist vielen noch heute der Komponist, der die „Sprache“ der europäischen Kunstmusik von Grund auf veränderte, um deren Tradition fortschreiben zu können. Und Charles Ives, der Europa erst bereiste, als er nicht mehr komponierte, gilt als der nicht weniger innovative Gründervater und erste Hauptfigur einer originären, vom alten Europa sich unabhängig verstehenden Kunstmusik der amerikanischen, genauer: der nordamerikanischen Moderne.
Das Programm des kommenden Musikfest Berlin geht über dieses – oft erzählte – Narrativ der Moderne hinaus, berücksichtigt insbesondere auch Werke amerikanischer Komponistinnen, so etwa in drei Porträt-Abenden mit dem Ensemble Modern, die dem Gesamtschaffen von Ruth Crawford Seeger (1901-1953) gewidmet sind. Deren Musik wird in den Programmen mit Werken von Johanna Beyer (die 1888 in Leipzig geboren wurde und 1923 in die USA emigrierte), der aus Kuba stammenden Grand Dame der zeitgenössischen Musik Amerikas Tania León (geb. 1943) und der aus Kalifornien stammenden Katherine Balch (geb. 1991) verbunden. Außerdem sind Werke von den amerikanischen Komponistinnen Allison Loggins-Hull (Gastspiel Cleveland Orchestra) und Missy Mazzoli (Berliner Philharmoniker am 7. und 8. September) zu hören.
Vor allem aber trifft am 24. August, dem Eröffnungstag des Musikfest Berlin, mit dem São Paulo Symphony Orchestra die süd- auf die nordamerikanische Moderne, während die Big Band des Orchesters sich im anschließenden Late-Night-Konzert der „Música Popular Brasileira“ widmet. Ihr wiederum antwortet die BigBand der Deutschen Oper Berlin – wie die brasilianische Formation eine Gründung aus dem symphonischen Orchester heraus – gegen Ende des Festivals, am 16. September, mit einem Duke Ellington zugedachten Abend.
Die sogenannte „Entdeckung“ Amerikas ist zugleich ein Menschheitsverbrechen, zu dessen Austragungsort neben den Kontinenten auch der Atlantik gehört: Der Sklavenhandel im Dreieck zwischen Europa, Afrika und den „Amerikas“ hat die Welt geprägt und die Musikgeschichte nachhaltig verändert. Im Projekt „Un mar de músicas“ entwickelt der Grand Seigneur der historischen Aufführungspraxis und Kenner der die Kontinente übergreifenden globalen Musikgeschichte Jordi Savall mit seinen beiden Formationen Tembembe Ensemble Continuo und La Capella Reial de Catalunya und Gastmusiker*innen aus Kuba, Haiti, Brasilien, Mali, Venezuela und Mexiko einen Dialog wechselseitiger Einflüsse zwischen europäischem Barock und den Liedern der Sklav*innen zwischen 1440 und 1880. Ein musikalisches Netz über den Schwarzen Atlantik, von der afrikanischen zur amerikanischen Küste, zur Karibik und zurück nach Europa.
Zu den internationalen Gastensembles des diesjährigen Musikfest Berlin zählen das Cleveland Orchestra mit Franz Welser-Möst, die Kansas City Symphony mit Matthias Pintscher, das Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Sir Simon Rattle und die Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann. Das Konzert der Filarmonica della Scala mit ihrem Chefdirigenten Riccardo Chailly beim Musikfest Berlin 2024 findet statt im Rahmen der dem Gastland Italien gewidmeten Veranstaltungsreihe „Verwurzelt in der Zukunft“ der Frankfurter Buchmesse 2024.
Gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern und den in Berlin ansässigen Klangkörpern präsentieren die Gastensembles ein Festivalprogramm, das dem amerikanischen Fokus ein reichhaltiges Panorama europäischer Musik korrespondieren lässt: von der Musik der Renaissance bis zu den Klassikern des großen Repertoires, zu Gustav Mahler, Antonín Dvořák und Dmitri Schostakowitsch; von den Jubilaren dieses Jahres – Anton Bruckner, Arnold Schönberg und Luigi Nono – bis zu den Komponist*innen unserer Zeit, zu Isabel Mundry, der ein Porträt von drei Konzerten gewidmet ist, zu Einojuhani Rautavaara und Wolfgang Rihm. Und wir gedenken der von uns gegangenen Komponist*innen Kaija Saariaho, Aribert Reimann und Peter Eötvös. Kammermusikalische Kostbarkeiten schließlich sind mit Anna Prohaska, Pierre-Laurent Aimard, Isabelle Faust und Instrumentalist*innen der Berliner Philharmoniker zu erleben.
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